November – Lebende Gewächshäuser

Mit jedem Sturm wehen mehr Blätter aus den Bäumen heraus, und die Kronen werden kahl. Die Büsche und Sträucher auch. Während sensiblere Gemüter in Trübnis verfallen, kommen für die Neugierigen jedoch auch Dinge zum Vorschein, die man zwar schon im Sommer hätte beachten können, die aber zwischen all dem Grün und Blumenbunt nicht auffielen. Jetzt aber, wo alles grau und welk wird, fallen auf Steinen und Baumrinden Flecken in’s Auge, die nähere Betrachtung verdienen. Oft sind es nur flache, weißliche oder graue Krusten, mitunter aber auch recht farbenfrohe Erscheinungen (Bild 1) und manchmal von geradezu bizarrer Gestalt (Bild 2): die Flechten.

Bild 1
Bild 2

Flechten sind absonderliche Gebilde, schon alleine deshalb, weil wir zwar viele Flechtenarten unterscheiden, die aber tatsächlich gar keine Arten sind, sondern Lebensgemeinschaften, und zwar sehr enge, sogenannte Symbiosen. Um eine Flechte zu bilden, müssen sich immer ein Pilz und eine Alge zusammenfinden, und manchmal kommen auch noch Blaubakterien hinzu. Im Grunde sind Flechten lebendige Gewächshäuser, wobei der Pilz mit seinen Fäden die schützende Hülle baut, in der die Algen leben. Die Algen machen Photosynthese, und von dem, was die Algen produzieren, lebt auch der Pilz, der Saugorgane in die Algenzellen sendet. Das, was wir auf unseren Spaziergängen als Flechten sehen, sind also nur die pilzlichen Partner, auch wenn sie überhaupt nicht wie Pilze aussehen. Aufgrund ihrer eigenartigen Lebensweise haben diese Pilze völlig neue Lebensformen entwickelt, die jeweils für jede Flechtenpilzart so spezifisch sind, dass man sie daran als Art erkennen kann. Da die Algenpartner mikroskopisch klein sind, zieht man sie für eine Artzuweisung nicht heran.

Dabei sind die Partner in der Regel nicht frei austauschbar, sondern die jeweiligen Pilze können nur mit den genau für sie passenden Algenarten zusammen leben. Die Algen sind da flexibler und können auch ohne den Pilz zurechtkommen. Was aber haben die Algen dann davon, sich von dem Pilz aussaugen zu lassen? Die Antwort lautet schlicht: Gemeinsamkeit macht stark. Flechten kommen überall auf der Welt vor, vom letzten Felsen, der aus dem polaren Eis ragt, bis zum sonnenverbranntesten Wüstenboden, den man sich vorstellen kann. An solchen Orten könnten empfindliche einzellige Algen wohl kaum alleine überleben, und der Pilz könnte dort auch keine Nahrung finden. Gemeinsam, als Flechte, schaffen sie es aber und dringen dabei weiter vor als irgendeine andere Organismengruppe. Oft sind sie dort sogar besonders erfolgreich, da jegliche Konkurrenz längst aufgegeben hat.

Im Vergleich dazu ist angesichts der bei uns üppigen Vegetation unser Flechtensortiment geradezu ärmlich, und doch haben sie auch uns noch eine Fülle verschiedener Erscheinungen zu bieten. Der einfachste Flechtentyp sind die schon erwähnten Krusten, die eng und fest an ihre Unterlagen angeschmiegt sind. Die in unseren Gefilden auffälligste Krustenflechte dürfte die Landkartenflechte sein, die durch leuchtend gelbe Flächen auffällt, die von schwarzen Linien geschieden sind wie Staaten durch Grenzen auf Landkarten – daher der Name (Bild 3).

Bild 3

Ebenfalls gelb, aber schon nicht mehr so fest mit der Unterlage verbunden ist die – nomen est omen -  Gelbflechte, deren blättrige Lappen sich mit Haftfäden am Untergrund festhalten (Bild 4). Der Vorteil einer lockereren Haftung liegt darin, dass stark unebene Untergründe leichter besiedelt werden können oder solche, die sich mit der Zeit verändern, wie zum Beispiel Baumrinden. Und so findet man den Typ der Blattflechte (anderes Beispiel Bild 5: Blasenflechte) auch besonders häufig auf Rinde. Einige wenige Flechten können jedoch so stark wachsen, dass sie zumindest auf mageren Heiden und Trockenrasen mit Moosen und anderem Bewuchs mithalten können. So schaffen die Schildflechten (Bild 6) durchaus 2 bis 3 cm im Jahr, was nicht so viel zu sein scheint, aber immerhin deutlich mehr ist als ein Wachstum von nicht einmal einem Millimeter, das die Krustenflechten aufweisen.

Bild 4
Bild 5
Bild 6
Bild 7

Die üppigsten Flechten sind schließlich stark verzweigt und bilden entweder aufrechte Strauchflechten (Bild 7: Eichenflechte) oder weiche, herabhängende Band- (Bild 8: Eschen-Bandflechte) und Bartflechten (Bild 2: Scheiben-Bartflechte). Band- und Bartflechten sind inzwischen allerdings in Schleswig-Holstein ausgestorben, da sie gegenüber Umweltverschmutzung extrem empfindlich sind. Zu den Strauchflechten gehören auch das Islandflechte (Bild 9) und das Rentierflechte (Bild 10), die trotz ihrer auf ihre nordische Hauptverbreitung weisenden Namen auch bei uns in Nadelwäldern und Heiden vorkommen. Im Deutschen werden solche Arten immer noch als Eichenmoos, Islandmoos oder Rentiermoos bezeichnet. Das geht darauf zurück, dass man erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannte, dass diese vermeintlichen Moose etwas ganz Anderes und völlig Einzigartiges darstellen.

Bild 8
Bild 9
Bild 10

Das Rentiermoos – besser Rentierflechte – gehört zu der vielgestaltigen und unüberschaubar großen Gruppe der Becherflechten. Das merkt man ihr nicht gleich an, die klassische Becherflechte sieht anders aus (Bild 11: Trompetenflechte). Es gibt jedoch auch Formen, bei denen aus den Bechern neue Verzweigungen auswachsen (Bild 12: Vielgestaltige Becherflechte), bis schließlich ein buschförmiges Wachstum wie bei der Rentierflechte erreicht ist. Grundsätzlich bilden alle Becherflechten zunächst einmal einen blättrigen Körper, aus dem dann die aufrechten Teile auswachsen. Einige Arten behalten diese blättrige Form ihr Leben lang bei (Bild 13: Blättrige Becherflechte). Die meisten Arten bilden jedoch auf die eine oder andere Weise die namengebenden Becher aus. Bei vielen Arten sind die Becher am Rand mit farbigen Polstern besetzt (Bild 14: Scharlach-Becherflechte) oder ganz davon überzogen (Bild 15: Schwammige Becherflechte).

Bild 11
Bild 12
Bild 13
Bild 14
Bild 15

Bei diesen farbigen Polstern handelt es sich um sogenannte Apothecien, die bei den meisten anderen Flechten als flache Schüsseln ausgebildet sind (Bild 4). Die Becherflechten haben diese Schüsseln sozusagen nach außen gestülpt. Diese Apothecien dienen der Fortpflanzung und geben Sporen ab. Solche Sporen sind mikroskopisch klein und können überall hin verweht werden wie Staub. Der Haken ist dabei allerdings, dass das, was sich da fortpflanzt, nur der Pilz ist. Keimt die Spore an Stellen aus, wo sich gerade keine für die Symbiose geeigneten Algen befinden, stirbt der junge Pilz, der nicht zur Flechte werden konnte.

Sicherer ist es da, einfach ein Bruchstückchen Flechte mitsamt der darin enthaltenen Algenkultur abzugeben und anderswo wieder festzuwachsen. So etwas geschieht sowieso. Flechten können sehr stark austrocknen, ohne Schaden zu nehmen. Sie sind dann jedoch sehr starr und brüchig, und wenn dann zum Beispiel ein ungeschickter Fuß auf die Flechte tritt, brechen Teile ab und können verschleppt werden (dies soll keine Aufforderung sein, unnötig auf Flechten herum zu trampeln!). Die meisten Flechten verlassen sich aber nicht auf solche Zufälle. Statt dessen schnüren sie aktiv kleine Pilzknäuel mit darin enthaltenen Algenpaketen ab, sogenannte Isidien, die dann von Wind und Wasser in der Gegend verteilt werden können. Manche Flechten sehen durch diese Isidien ausgesprochen schuppig aus. Immerhin ist diese Art der ungeschlechtlichen Fortpflanzung so erfolgreich, dass manche Flechten überhaupt keine Sporen mehr ausbilden, sondern nur noch auf die Isidien setzen (Bild 16).

Bild 16

Das ist nur ein Teil der mitunter verblüffenden Geheimnisse, mit denen die Flechten aufwarten. Insgesamt gehören sie zu den erfolgreichsten und skurilsten Erscheinungen, die die Evolution über die Jahrmillionen hervorgebracht hat. Und das sollte doch genug Interesse wecken, um sich auch im grauen November einmal nach draussen locken zu lassen.
Dr. Heinz Klöser



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