Mai – Die Lauenburger Tone

Es ist Frühling, und wir genießen in der warmen Sonne und unter dem frischen grünen Laub unsere Landschaft, die von zahlreichen Seen und Wäldern geprägt ist (Bild 1). Diese wundervolle Landschaft verdanken wir den Gletschern der Eiszeit, deren Ablagerungen - die Grundmoräne - die heutigen Hügel und Niederungen bildet. Ohne diese wild durchmischten Massen aus Steinen, Kies, Sand, Lehm und Ton gäbe es Schleswig-Holstein und Dänemark überhaupt nicht, denn die würden dann unter dem Meeresspiegel liegen. Nun zieht sich von Norden nach Süden durch Jütland und Schleswig-Holstein und dann weiter in südöstliche Richtung durch Mecklenburg wie ein Rückgrat ein Höhenrücken, und das ist die alte Endmoräne, der Schuttwall, an dem die Gletscherzungen der letzten Vereisung, dem sogenannten Weichsel-Glazial, endeten. Aber auch westlich dieser Grenze, in Westjütland, dem westlichen Schleswig-Holstein, dem südlichen Mecklenburg und dann weiter bis nach Flandern und ins Münsterland, besteht die Landschaft aus Grundmoränen früherer Gletscher. Dies kommt daher, dass die Gletscher weiter zurückliegender Vereisungen, nämlich von Saale- und Elster-Glazial, viel weiter reichten, bis an die Füße des Sauerlandes, des Harzes und der Sudeten. Entsprechend spricht man bei diesen westlicheren Moränenlandschaften von Altmoräne, während die östliche als Jungmoräne bezeichnet wird.

Bild 1
Bild 2
Bild 3

Das größere Alter der Altmoräne ist aber nicht das Einzige, was sie von der Jungmoräne unterscheidet. Die Jungmoräne lag bis zum Abtauen des Eises unter den Gletschern geschützt, wohingegen die Altmoräne während der Weichsel-Zeit im eisfreien Vorland lag. Heftige kalte Fallwinde bliesen alle Feinbestandteile aus den Altmoränenböden aus, und das waren gerade die Tonteilchen, an die Nährstoffe und vor allem Kalk gebunden sind. Man kann heute noch als Zeugen dieser Zeit Steine finden, deren Oberflächen von dem staubhaltigen Wind wie von einem Sandstrahlgebläse abgeschmirgelt worden sind, sogenannte Windkanter (Bild 2). Der Tonstaub wurde weit fortgeweht und lagerte sich erst in erheblicher Entfernung von den Gletschern wieder ab, dort, wo deren Fallwinde ihre Kraft verloren. Die fruchtbaren Lössböden der Soester und Magdeburger Börde, vor allem aber die mächtigen Steppenböden der Ukraine sind aus diesem Ton aufgebaut (Bild 3).

Und dieser Ton fehlt jetzt im Nordwesten. Hier blieben nur die Bestandteile zurück, die die Winde nicht bewegen konnten, nämlich Kies und Steine, die einfach liegen blieben, wo sie waren, und Sand, den der Wind nur kurze Strecken fortragen und dann zu Binnendünen auftürmen konnte, oder der von Schmelzwasser zu Sandern zusammengespült wurde (Bild 4). Aus diesem Ausgangsmaterial bildeten sich dann nach und nach ärmliche, bräunliche, mehr oder minder saure Böden (Bild 5), die Eichen-Buchen-Stechpalmen-Wälder tragen (Bild 6) oder noch artenärmere Eichen-Birken-Wälder (Bild 7).

Bild 4
Bild 5
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Bild 7
Bild 8

Ganz anders die Wälder auf den reichen Böden des Jungmoränengebiets: Dort blüht jetzt der Waldmeister (Bild 8). Mal abgesehen davon, dass er der wesentliche Bestandteil der Maibowle ist, ist er vor allem die namengebende Charakterpflanze des artenreichen Waldmeister-Buchenwaldes (Bild 9), in dem mitunter sogar prachtvolle Orchideen wie das Manns-Knabenkraut (Bild 10) vorkommen.

Nun komme ich ja ursprünglich aus dem Bremer Umland, und das heißt, mitten aus dem Altmoränengebiet, und die üppigen Buchenwälder des östlichen Schleswig-Holsteins waren mir dementsprechend fremd. Die prächtigen Pflanzen kalkhaltiger Standorte gab es bei uns nicht – bis auf eine Ausnahme: In manchen Quelltälern - beileibe nicht allen - blühten um diese Zeit Gewächse, die zu sehen wir eigens Ausflüge unternahmen (Bild 11). Es handelte sich stets um den gleichen Satz echter Raritäten: um die prächtigen Schlüsselblumen (Bild 12), den immergrünen Winterschachtelhalm (Bild 13), das winzige Moschuskraut mit seinen merkwürdig würfelförmigen Blütenständen (Bild 14), die Sanikel (Bild15), das Bingelkraut (Bild 16 und 17) und die ornamentale Einbeere (Bild 18). Auch Orchideen wie das Große Zweiblatt (Bild 19 und 20) fanden sich dort und als besondere Kostbarkeit die skurrile Schuppenwurz, die keinerlei Blattgrün besitzt, weil sie als Vollparasit nur einen fleischig-rosigen Blütenstand über der Erde zeigt (Bild 21). Offensichtlich musste das Wasser dieser Quellen kalkhaltig sein, aber wo kam der Kalk her?

Bild 9
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Mitunter konnte man in den Bächen, die aus solchen Quellen ihren Ausgang nahmen, Stufen feststellen, die auf den ersten Blick wie Felsbänder wirkten. Felsbänder gab es aber nicht, sondern es handelte sich um sehr kompakte und daher widerstandsfähige Tonschichten (Bild 22), an denen sich das Grundwasser zu einem Quellhorizont staute und dabei anscheinend auch Kalk aus dem Ton löste. Diese Quelltäler mit ihrem botanischen Reichtum war meine erste Begegnung mit den sogenannten Lauenburger Tonen, lange bevor ich auch nur ahnte, dass ich meine späteren Jahre mitten im Lauenburgischen verbringen sollte.

Die Lauenburger Tone wurden nach dieser Gegend benannt, weil ihre Besonderheit zum ersten Mal aufgefallen ist, als man zu Kaisers Zeiten den Elbe-Lübeck-Kanal gegraben hat. Um aber die Besonderheit dieser Tone zu verstehen, müssen wir noch einmal tief in die Geschichte der Eiszeit zurück gehen. Als die Gletscher der Elster-Vereisung (die vor-vorletzte Vereisung) abtauten, sammelten sich große, von Gletscherschlamm trübe Schmelzwasserseen in den Senken der freiwerdenden Grundmoräne, die ganz Norddeutschland überdeckte, wie wir ja schon festgestellt haben. In diesen Seen sanken die schwereren sandigen Bestandteile schneller zum Grund als die leichteren tonigen. Aber auch die setzten sich nach und nach in einer eigenen höheren Schicht ab, die sich sehr kompakt und fest zusammen lagerte.

Bild 22

In der nachfolgenden Saale-Vereisung (der vorletzten Vereisung), die ebenfalls ganz Norddeutschland mit Eis überzog, wurden die alten Schmelzwasserseen von einer neuen Grundmoräne überdeckt, aber die am Seegrund abgelagerten Tonschichten überdauerten im Untergrund. Mit dem Ende der Saale-Vereisung bildeten sich erneut Schmelzwasserseen, die im heutigen Altmoränengebiet jedoch nicht noch einmal überdeckt wurden, da sich ja das Weichsel-Eis der letzten Vereisung nur bis in unsere Gegend ausgedehnt hat. Das gesamte nordwestliche Deutschland lag - wie schon gesagt - im Vorland des Inlandeises und war damit massiven Verwitterungs-, Abtragungs- und Umlagerungsprozessen ausgesetzt. Aus diesem Grund sind die Landschaften dort auch von einer sehr viel flacheren, ausgeglicheneren Struktur als die hügeligen, seenreichen Jungmoränenlandschaften des Nordostens.

Während von den Schmelzwasserseen der Saale-Zeit zumindest die größten die Umgestaltungen der Weichsel-Zeit überstanden, wie zum Beispiel Steinhuder Meer, Dümmer und die großen Seen im Elbe-Weser-Dreieck, kamen mancherorts die tieferliegenden Seeböden der Elster-Zeit wieder zum Vorschein: Bäche und Flüsse haben sich dort so tief in den Boden gegraben, dass die alten Ablagerungen, die heutigen Lauenburger Tone, angeschnitten wurden. Diese Anschnitte entwickelten sich zu den kalkhaltigen Sickerquellen, die wir heute noch anhand ihrer besonderen Pflanzengemeinschaften ausmachen können.

Solche kalkhaltigen Sickerquellen gibt es natürlich auch im Jungmoränengebiet, zum Beispiel am Ostufer des Ratzeburger Sees, allerdings sind sie nicht so leicht zu erkennen, weil kalkliebende Pflanzen auf den nicht ihrer Tonpartikel entblößten und deshalb auch nicht entkalkten Jungmoränenböden weiter verbreitet sind und somit ihren Zeigerwert verlieren.

Nun zieht sich ja die Endmoräne der Weichselzeit und damit die Grenze zwischen Alt- und Jungmoränengebiet mitten durch unsere lauenburgische Gegend, so dass man beide Situationen vergleichen kann. Wenn man also im Altmoränengebiet auf ungewöhnlich artenreiche, feuchte Senken trifft, kann es gut sein, dass man auf den nach unserer Gegend benannten Ton gestoßen ist, selbst wenn er an der Oberfläche nicht in Erscheinung tritt. Womit sich erneut bewahrheitet, dass man, wenn man die Pflanzen kennt, in der Landschaft lesen kann wie in einem offenen Buch.

Dr. Heinz Kklöser



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