Juni – die Unsichtbaren

Die Welt ist nun sommerlich grün durch Myriaden frischer Blätter, die sich an Büschen und Bäumen entfaltet haben. Kaum haben sie das getan, werden sie auch schon wieder vertilgt. Mal abgesehen davon, dass wir uns auch selber aus jungen Buchen-, Linden- und Ahornblättern einen Salat machen können, sind es vor allem kleinere Konsumenten, die sich an dem üppigen Laub laben, und darunter wiederum hauptsächlich Insekten und ihre Larven (Bild 1: Pappelblattwespe). Nun ist ja allgemein bekannt, dass hinter all diesen zarten, saftigen, weichen, wehrlosen Raupen und Maden gerade jetzt die ganze Vogelschar her ist (Bild 2: Mittelspecht), und so steht bei vielen Insekten die Strategie des Tarnen-Täuschen-und-Verkrümelns hoch im Kurs. Dazu muss man sich allerdings schon etwas einfallen lassen, wenn das ersehnte Grün in luftiger und damit ziemlich exponierter Höhe hängt.

Bild 1
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Die einfachste Methode ist, sich eisern auf der Unterseite aufzuhalten. Oft kann man Blätter finden, die offensichtlich angefressen sind (Bild 3: Eiche), aber wo ist der gierige Fresser? Dazu muss man lediglich das Blatt umwenden, und da sitzen sie dicht an dicht (Bild 4: Lindenblattwespe auf Eiche). Nun ist es zugegebenermaßen ja nicht übermäßig schwierig, einer solchen potentiellen Beute auf die Schliche zu kommen, so dass ausgefeiltere Methoden gefragt sind. Da hilft es schon, die Blätter tütenförmig einzurollen und innerhalb der Tüte zu bleiben, wie es die Rosenblattwespe macht (Bild 5). Noch besser ist es, gleich ganz in dem als Nahrung dienenden Blatt zu verschwinden. Dies ist allerdings erst nach einer gewissen Miniaturisierung im Verlauf der Evolution machbar. Gleichwohl sind die zahlreichen Blattminierer, vor allem Fliegen- und Mottenarten, diesen Weg gegangen. Während einem die winzigen Insekten selbst meist nicht ins Auge fallen, sind ihre Fraßgänge in den befallenen Blättern allgegenwärtig (Bild 6: Rosenminierfliege). Manchmal kann auch die gesamte Zwischenschicht der Blätter flächenhaft zerfressen werden, so dass die Außenhaut des Blattes abplatzt und die Insekten freigibt, wobei die verbrauchten Blattflächen anschließend ganz absterben (Bild 7: Zweifarbige Minierfliege).

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Die wohl publikumswirksamsten Blattminierer dürften wohl die Rosskastanienminiermotten sein. Dieses Insekt ist ihrem Wirt, der Rosskastanie, aus ihrer Heimat auf dem Balkan in die mitteleuropäischen Gefilde gefolgt. Ihr Fraß bewirkt, dass die Blätter der Rosskastanie schon Ende Juni aussehen wie bei anderen Bäumen im Spätherbst (Bild 8). Das bringt die Rosskastanien nicht um, aber sie lassen in ihrer Wuchsleistung deutlich nach, da ja ein großer Anteil der Blattfläche funktionsunfähig wird. Vor allem aber sieht das hässlich aus, und da Rosskastanien zu unseren prominenten Park- und Alleebäumen gehören, ist die Aufregung groß. Doch wie so oft, kommt Hilfe von Mutter Natur selbst. In zahlreichen Gebieten Mitteleuropas wurde beobachtet (auch in meinem eigenen Garten), dass zwei Meisenarten, nämlich die Blau- (Bild 9) und die Kohlmeise (Bild 10) die Rosskastanienminiermotten als Nahrungsquelle entdeckt haben. Diese Vögel sind leicht genug, um auf den stabilen Rosskastanienblättern landen zu können. Und so hängen sie nun dort und pickeln die Mottenlarven aus den Blättern. Dies hat den Befall bereits so stark gemindert, dass man mancherorts dazu übergegangen ist, Meisen gezielt durch bessere Brutmöglichkeiten zu fördern. Dies zeigt jedoch auch, dass aus Sicht der Insekten der Schutz immer noch mangelhaft ist. Nächster Schritt also: Einkapseln.

Und damit sind wir bei den Pflanzengallen angelangt. Pflanzengallen sind mehr oder minder eigenartige Auswüchse, die im Prinzip nichts anderes als Schutzgehäuse für darin lebende Insektenlarven darstellen. Dabei verursachen die Larven selbst das Wachstum der Gallen, indem sie Stoffe ausscheiden, die auf die Pflanze wie Wachstumshormone wirken, so dass die Galle mit der größer werdenden Larve mitwächst (Gemeine Eichengallwespe: Bilder 11 und 12). Da jede Art ihre eigenen Bedürfnisse an ein gemütliches Zuhause stellt, produziert jede Art eine spezifisch aussehende Galle, so spezifisch, dass man die Art der darin wohnenden Insektenart am Aussehen der betreffenden Galle bestimmen kann. Und das erleichtert dem Naturfreund die Arbeit doch sehr. Wer möchte sich schließlich – außer eingefleischten Experten vielleicht – wirklich der Mühe unterziehen, etwa die Ulmenblasenlaus von der Rüsterblasenlaus zu unterscheiden? Mit Hilfe ihrer Gallen lässt sich hingegen ihre Anwesenheit recht sicher diagnostizieren (Ulmenblasenlaus: Bild 13; Rüsterblasenlaus: Bild 14). Wie sie es aber schaffen, das Gallenwachstum so exakt zu steuern, dass ein genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Gehäuse entsteht, das dann sogar noch eine Artbestimmung zulässt, ist zum großen Teil noch das Geheimnis dieser Winzlinge.

Bild 11
Bild 12
Bild 13
Bild 14

Sicher ist jedoch, dass Gallenbildung für Insekten ein echtes Erfolgsgeheimnis ist, denn gallbildende Insekten kommen aus den verschiedensten Verwandtschaftskreisen (als Beispiele Schwammgallwespe: Bild 15; Buchengallmücke: Bild 16; Distelbohrfliege: Bild 17; Fichtenblasenlaus: Bild 18) und auch die Spinnenartigen stellen gallbildende Milben (Ahorngallmilbe: Bild 19; Lindengallmilbe: Bild 20). Entsprechend unüberschaubar ist die Vielfalt der Gallen, die an allen möglichen Pflanzenarten und an diesen an allen möglichen Pflanzenteilen auftreten.

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Bild 18
Bild 19
Bild 20

Doch nicht alles, was wie eine von Insekten ausgelöste Galle aussieht, ist auch tatsächlich durch Insekten verursacht worden. Eine ganze Reihe anderer Organismen, und darunter vor allem verschiedene Pilze, können gallenartige Wucherungen hervorrufen. So gehen die Narrentaschen an den Fruchtständen der Traubenkirsche (Bild 21) genauso auf Pilze zurück wie die scharlachroten, aufgeblähten Blätter von Heidel- und Trunkelbeeren auf den Mooren (Bild 22). Auch die als Baumkrebs (Bild 23) bekannten Holzwucherungen gehören für den Fachmann zu den Pflanzengallen, und damit stellen nicht die Insekten, sondern die Pilze die größten Gebilde dieser Art (Bild 24).

Bild 21
Bild 22
Bild 23

Bleibt noch zu sagen, dass Gallen nicht nur für Kuriositäten im Pflanzenreich sorgen, sondern in früheren Zeiten für den Menschen auch von Nutzen waren. Von verschiedenen Anwendungen hat sich eine sogar bis heute erhalten, nämlich die dokumentenechte Tinte. Werden Staatsverträge oder ähnlich bedeutsame Papiere unterschrieben, wird das mit spezieller Tinte gemacht, die auch nach Jahrhunderten noch nicht verblasst sein darf. Dazu nimmt man die sogenannte Eisengallustinte, die im Wesentlichen hergestellt wird, indem man Eisensalze mit einem Sud aus Eichengallen mischt. Angeblich hat das als erster ein Gelehrter aus dem 3. Jahrhundert vor Christus gemacht, Philon Byzantios.

Wer sich daran versuchen möchte, für den sei das Rezept des Schweizers Andreas Behm von 1716 zitiert: „Nimm 2 Maß sauber Regenwasser in ein sauberen Dintenhafen. Thu darein 18 Lod schwarzen Gallus, grob gestoßen und den Staub darvon gesiebet. Dann tu darein 8 Lod weißen Gummi. Laß widerum drei Tage und Nächt stehen. Alsdann tu darin 8 Lod Vitriol und 1 Lod Alaun samt einem Glas voll Essig und ein Löffel voll Salz. Rühre es wohl unter ein anderen. Stelle den Hafen Sommerszeits an die warme Sonne, im Winter aber auf einen warmen Ofentritt, vierzehn Tag lang und alle Tage einmal umgerührt. Gibt eine ausbündig schöne schwarze Dinten.“

Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Eisengallustinte wegen des hohen Gerbsäuregehalts zum Papierfraß neigt. Aus Holzfasern gemachtes Papier zerfällt mit der Zeit wie der Ruhm der Politiker, die das Papier beschrieben haben. Besser hält Papier auf Lumpenbasis. Und so haben wir zum Schluss sogar noch eine Lanze für das Recyling gebrochen. Wer hätte das gedacht…
Dr. Heinz Klöser

Bild 24


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