Juli – die Unsichtbaren

Da leben wir nun in einem der am dichtesten besiedelten Länder der Welt (um nicht gleich überbevölkert zu sagen), und da zeigt das Fernsehen einen Film mit dem Titel „Der Amazonas des Nordens“. Das ist schon eine ganze Weile her, aber der Titel wird seitdem gerne kolportiert, nur fragt man sich, wo denn bitte bei uns irgendeine Landschaft sein sollte, die einen solchen Vergleich verdient hätte. Die Elbe vielleicht mit ihren zum Teil noch ansehnlichen Auen? Nein, die Rede ist von der Wakenitz, dem Grenzfluss zwischen Schleswig-Holstein und Mecklenburg. An der Größe kann es wahrlich nicht liegen, doch wenn man sich der Strömung anvertraut und dem Flusslauf folgt, erschließen sich Bilder, die tatsächlich eine Ahnung wilder Sümpfe und ungezähmter Wassermassen aufkommen lassen (Bild 1). Niemand kümmert sich darum, abgestorbene Bäume abzuräumen (Bild 2), und wenn sie umstürzen und einen Seitenarm blockieren, ist das auch in Ordnung (Bild 3).

Bild 1
Bild 2
Bild 3

Doch nichts täuscht mehr als dieser Eindruck unberührter Wildnis. Schon im Mittelalter wurde die Wakenitz aufgestaut, um Wassermühlen betreiben zu können und Schiffe auf ihr fahren zu lassen. Der Wasserpegel wurde streng reguliert, da bei zu hohen Wasserständen die Gefahr bestand, Teile von Ratzeburg zu überfluten. Ein in Lübeck aufgestellter Pfahl mit einer eisernen Froschfigur darauf wachte darüber, wie hoch das Wasser steigen durfte. Das klingt nach sehr gutnachbarlichen Beziehungen, aber ganz so war es dann doch nicht. Im 12. Jahrhundert legte Heinrich der Löwe einen von ihm bescheidenerweise Löwenstadt genannten Handelsplatz an, um dem Grafen Adolf von Holstein, der Herr über Lübeck war, eins auszuwischen. Dies hätte den Wiederaufstieg Lübecks nach dem damaligen verheerenden Stadtbrand verhindern können; doch es zeigte sich, dass die Wakenitz als große Verkehrsschlagader völlig ungeeignet war: Der schmale Flusslauf machte es Seglern unmöglich, bei ungünstigen Windverhältnissen zu kreuzen, und die morastigen Sumpfwälder an den Ufern ließen  die Anlage von Treidelwegen nicht zu, so dass die Kähne auch nicht geschleppt werden konnten. So ging das löwenhaft ehrgeizige Unternehmen Heinrichs sang- und klanglos unter, und der Wakenitz ist aus dieser Zeit nur der Spitzname „Langer Jammer“ geblieben.

Später, zu Kaiser Wilhelms Zeiten, verlagerte sich der Schiffsverkehr ohnehin auf den Elbe-Lübeck-Kanal, so dass das Fahrwasser der Wakenitz in Vergessenheit geriet. Gleichwohl wurde die Stauung beibehalten, so dass heute statt eines raschen Wasserzuges eine eher behäbige Drift die Wakenitz prägt.

Bild 4

Und so konnten sich in der Wakenitz Pflanzen ansiedeln, die man eher an den Ufern großer Seen und stiller Teiche vermutet, weil sie einer starken Strömung nicht standhalten. Dazu gehören vor allem die weiß blühenden Seerosen (Bild 4) und die ähnlich aussehenden, aber gelb blühenden Teichrosen (Bild 5). Die Schwimmblätter bieten zahlreichen Tieren Nahrung, am meisten wohl dem Seerosenblattkäfer, dessen Larven die Blätter von der Unterseite her zerfressen, so dass sich linienförmige Lochmuster bilden (Bild 6). Diese willkommene Beute wiederum lockt Fische in die See- und Teichrosenbestände (Bild 7), allen voran die gerne an der Wasseroberfläche stehenden Rotfedern mit ihren auffälligen roten Flossen (Bild 8). Dabei werden die Schwimmblätter nicht nur als Delikatessenplatte geschätzt, sondern auch als Deckung, denn zumindest die kleineren Fische dienen ihrerseits zur Speise, und zwar dem Eisvogel (Bild 9), der an der Wakenitz leicht beobachtet werden kann. Wenn er sich von seinem Ansitz im Schilf oder auf niedrigen Zweigen in’s Wasser stürzt oder einfach nur auf die andere Seite fliegt, leuchtet er in der Sonne auf wie ein Edelstein. Wenn man dann noch weiß, dass der Eisvogel der einzige Vertreter unserer Breiten einer ansonsten tropischen Sippschaft ist, kommt einem sicher wieder der Vergleich mit der schillernden Vielfalt der Amazonassümpfe in den Sinn. Dumm nur für die Fische, dass vor allem die Teichrosen in der Wakenitz ihre sonst so typischen Schwimmblätter oft gar nicht ausbilden, sondern ganz unter Wasser bleiben, so dass der Fluss mitunter wie ein überschwemmtes Salatbeet aussieht (Bild 10).

Bild 5
Bild 6
Bild 7
Bild 8
Bild 9

Im nördlichen Abschnitt, dort wo sich die Wakenitz zu lagunenartigen Buchten weitet, bieten die stillen Wasserflächen einigen weiteren Pflanzenarten ein Auskommen, die sich noch weniger gegen Abdrift wehren können als See- und Teichrosen. Hier finden sich größere Bestände der Krebsschere (Bild 11), einer eigenartigen Pflanze, die im Sommer an der Wasseroberfläche schwimmt, sich aber im Herbst mit kontraktierbaren Wurzeln auf den Gewässergrund zurück zieht und so dem winterlichem Eis an der Oberfläche entgeht. Im Frühjahr dehnen sich die Wurzeln wieder, und die starre, aloenartig bestachelte Blattrosette steigt wieder an die Oberfläche auf, wo sie charakteristische dreizählige Blüten treibt (Bild 12). Ähnliche Blüten bringt auch der nahe verwandte Froschbiss hervor, der jedoch normale Schwimmblätter besitzt und dadurch einer Miniseerose ähnelt (Bild 13). Doch das täuscht, denn der Froschbiss schwimmt frei im Wasser und ist überhaupt nicht am Gewässergrund verwurzelt.

Bild 10
Bild 11
Bild 12
Bild 13

Wasser spielt auch in den Wäldern am Ufer eine große Rolle, denn trotz des regulierten Wasserstandes sind die dortigen Erlenbrüche sehr nass (Bild 14), und statt der sonst im Wald gewohnten Unterwuchsarten trifft man hier eher auf im Wasser stehende Sumpffarne (Bild 15) und prächtig blühende Sumpfschwertlilien (Bild  16). In tieferen Tümpeln breitet sich die Wasserfeder aus, ein empfindlicheres Primelgewächs, das hier im Waldschatten vor der starkwüchsigen, aber sonnenhungrigen Wasserpflanzenkonkurrenz sicher ist und mit zartrosa, fast weißen Blütentrauben aufwartet (Bild 17).

So ist also die Wakenitz zwar keine ursprüngliche Wildnis, aber doch ein Paradies aus zweiter Hand, eine Landschaft, die zeigt, dass auch in einer vom Menschen geprägten Umwelt die Möglichkeit besteht, einer ungestörten, ungezähmten Natur Raum zu geben, in der nicht ständig irgendjemand etwas zu regulieren, zu betreuen, zu managen, zu pflegen oder zu manipulieren hat. Und so hat sich die Wakenitz in ihrer stillen Abgeschiedenheit zu einem einmaligen Kleinod unserer Landschaft entwickelt, auch wenn der Vergleich mit dem mächtigen Amazonas Südamerikas vielleicht doch ein wenig dick aufgetragen sein mag.

Bild 14
Bild 15
Bild 16
Bild 17
Bild 18

Und doch, einen verblüffenden Bezug zum fernen Südamerika gibt es: Die Nandus (Bild 18). Am Ostufer der Wakenitz gibt es tatsächlich schon seit Jahren eine wild lebende Nandupopulation. Und wie kommt die dorthin? - Eigentlich gehörten die Tiere zu einer Straußenfarm bei Lübeck. Die war aber wohl nicht so ganz ordentlich geführt, wie es sein sollte; jedenfalls entkamen seinerzeit 6 Tiere und liefen durch die lauenburgischen Wälder, wo sie einem ihnen abholden Zeitgenossen begegneten, der sie kurzerhand in die Wakenitz jagte. Nun konnten die Nandus schwimmen und verschwanden also auf dem anderen Ufer im Wald und weiter in den endlosen mecklenburgischen Maisfeldern. Als sie einige Jahre später von dort wieder in‘s Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit traten, hatten sie sich bereits bis in den dreistelligen Bereich vermehrt. Mehrere Fernsehberichte wurden ihnen gewidmet. Touristen kamen und kommen, um diese wohl fremdartigen, aber doch erfolgreichen Besiedler unserer Agrarsteppe zu sehen. Die Einen lieben sie, den Anderen sind sie ein Dorn im Auge, und eine an skurrilen Wendungen nicht gerade arme Diskussion reißt seitdem nicht ab. Aber das ist bereits eine andere Geschichte…
Dr. Heinz Klöser



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