Dezember – Kalkflachmoor

Und wieder kommt die Zeit, in der jede durchziehende Wetterfront unweigerlich die Hoffnung auf den ersten Winterschnee aufkommen lässt und doch meist nur ungemütliches Schmuddelwetter bringt (Bild 1). Dem entsprechend wünschen sich viele unserer Zeitgenossen jetzt möglich weit weg, in den warmen, sonnigen Süden mediterraner Gefilde. Mal abgesehen davon, dass es jetzt auch am Mittelmeer in Strömen regnet, hat auch das Leben in jenen Breiten immer schon so seine Härten gehabt. Wir reden ja heute noch davon, dass etwas spartanisch ist, wenn wir besonders grausame Lebensumstände beschreiben wollen. Und das alte Sparta lag im Süden Griechenlands.

Bild 1
Bild 2

Dort war es im klassischen Altertum üblich, dass die Kinder mit 7 Jahren den Familien weggenommen und einer staatlichen Erziehung übergeben wurden. Das erste, was die Kinder tun mussten, war, sich eine Schlafstatt zu bauen. Dazu mussten sie in die Binsen gehen und sich mit bloßen Händen die Halme ausreißen, um sich damit eine Matraze zu fertigen. Die für den späteren Militärdienst abzuhärtenden Jungen durften dabei nur die Binsenschneide nehmen, eine Seggenart (Bild 2), die am Ufer kalkreicher Seen ausgedehnte Röhrichte bilden kann (Bild 3) und deren Blattränder mit scharfen sägezahnartigen Kanten versehen sind - man kann sich leicht vorstellen, wie die Hände nach einer derartigen Aktion aussahen.

Und was hat das alles mit unserer lauenburgischen Gegend zu tun? Nun ja, die Binsenschneide gibt es auch bei uns, aber bei uns ist sie eine Rarität, die sich an unseren Seen nur dort findet, wo das Wasser oder zumindest der Wurzelgrund kalkreich und ansonsten nährstoffarm ist. Solche Situationen sind nicht mehr häufig, und selbst dort, wo man solche Bedingungen noch findet, wie zum Beispiel im Krebssee im Hellbachtal, werden die raren Binsenschneiden durch gedankenlose Badende zertrampelt.

Bild 3
Bild 5

Umso besser, dass es in unserer nahen mecklenburgischen Nachbarschaft ein landschaftliches Kleinod gibt, nämlich das Kalkflachmoor bei Zarrentin (Bild 4), wo die Binsenschneide einen großen Bestand bilden kann. Ihre markanten mehrstufigen Fruchtstände stehen dort wie so vieles andere zu dieser Jahreszeit auch ein wenig winterlich-traurig herum (Bild 5), aber den Grund, warum sie mitten im Winter Erwähnung verdient, sieht man auch schnell: Im Gegensatz zu allen anderen Röhrichtpflanzen welken die blaugrünen Blätter der Binsenschneide nicht ab (Bild 6). Schon das gibt dem Kalkflachmoor ein ganz eigenes Gepräge.

Wie aber kommt es überhaupt zu einem Kalkflachmoor? Normalerweise sind Kalk und Moor ein Wiederspruch in sich. Aber es gibt Ausnahmen. Bei Zarrentin befindet sich der Ausfluss des Schaal-sees in die Schaale. Wie viele große Klarwasserseen hat sich auch im Schaalsee eine sogenannte Seekreide abgesetzt, die von den Kalkschalen mikroskopisch kleiner Schwebeorganismen im Wasser stammt. Davon wiederum haben verschiedene Muscheln profitiert, die Kalk für ihre Schalen benötigen und durch die verstärkte Wasserbewegung im Bereich des Seeausstroms mehr Nahrung angespült bekommen. Deren Schalen lagerten sich dann zusätzlich zur Seekreide in großen Mengen vor dem Schaaleabfluss ab.

Andererseits baute die Binsenschneide, die sich gerne auf Kalkschlamm ansiedelt, selber ein mächtiges Seggentorflager auf. Durch die darin enthaltenen Humussäuren hätte sich der Kalk schnell aufgelöst, aber eingebaut in die Muschelschalen, die sich nur langsam zersetzen, wird er nur allmählich abgegeben, so dass sich im Endergebnis eine 5 bis 8 Meter mächtige Kalkmuddeschicht blden konnte, die den Untergrund für das Kalkflachmoor bildet. Aufgrund dieser besonderen Bedingungen haben hat sich nicht nur die Binsenschneide hier halten können; auch das Sumpf-Herzblatt, das insektenfressende Fettkraut und Orchideen wie Fleischfarbenes Knabenkraut, Sumpf-Sitter und Sumpf-Glanzkraut haben sich hier eingefunden, auch wenn man sie jetzt gerade nicht zu sehen bekommt.

Bild 4
Bild 6

Hingegen kann man hier auch im Winter an einigen offenen Tümpeln ganz besondere Gewächse im Wasser erkennen: Armleuchteralgen (Bild 7). Sie gehören zu den Grünalgen und haben ihren Namen von den ausgebreiteten Seitentrieben, die antiken Silberleuchtern entfernt ähneln. Die wirkliche Besonderheit dieser eigenartigen Gewächse erschließt sich jedoch wohl nur dem Fachmann. Ihr innerer Aufbau ist erstaunlich kompliziert für eine Alge, und tatsächlich scheinen sie wohl am Übergang zu den Moosen und Bärlappen zu stehen, die zwar immer noch  primitiv genug sind, aber dennoch bereits zu den höheren Pflanzen gehören - ein echtes „missing link“ der Evolution, das es eben doch gibt.

Armleuchteralgen sind sehr konkurrenzschwach und werden schnell verdrängt, sobald sich das Röhricht in die Tümpel vorschiebt. Ohne regelmäßige Störungen, die den Rohzustand des Tümpels wieder herstellen, verschwinden sie schnell. Und insbesondere die Stickstoffverseuchung unserer Landschaft durch landwirtschaftliche Dünge- und Abfallstoffe hat dazu geführt, dass zahlreiche Kleingewässer von Fadenalgen, Entengrütze und Ähnlichem überwuchert werden, so dass die Armleuchteralgen an Lichtmangel eingehen und deshalb heute in flachen Gewässern sehr selten geworden sind.

Bild 7

Gleich nebenan, im klaren und tiefen Schaalsee, haben sie jedoch ein vorerst sicheres Rückzugsgebiet. Dort bilden sie unterhalb der von höheren Wasserpflanzen besiedelten Zone ausgedehnte Unterwasserrasen, und die sind wiederum für eine besonderer Entenart als Nahrungsquelle von besonderer Bedeutung, der Kolbenente (Bild 8: Erpel, Bild 9: Ente). Das kommt daher, dass die Kolbenente eigentlich ein Vogel der Steppen und Wüsten Innereurasiens ist. Die dortigen Seen sind meist mehr oder minder salzbeeinflusst, und in solch brackigen Gewässern gedeihen ebenfalls Armleuchteralgen (und sonst nicht viel Anderes).

Bild 8
Bild 9

Die Kolbenente ist ein jüngerer Neuzugang in unserer Fauna. Vor etwa einem Jahrhundert erst hat sich die Kolbenente nach Westen ausgebreitet und zunächst den Mittelmeerraum für sich erobert. Dies ist ohne erkennbare menschliche Hilfe geschehen, und es ist nicht wirklich klar, was diese plötzliche Ausbreitung ausgelöst hat. Jedenfalls kam sie in der Folge über den Umweg aus dem Südwesten von Frankreich nach Mitteleuropa. Seit 1920 brütet sie an vereinzelten Plätzen in Deutschland; und um 1940 herum kam sie in Dänemark an. Um diese Ente am Schaalsee beobachten zu können, müssen wir jedoch – wie bei den Orchideenblüten – auf den Sommer warten. Einstweilen schauen wir den Scharen anderer Enten- und Gänsearten aus dem Norden und Osten zu, die auf dem Schaalsee den Winter verbringen und ihn – alles ist relativ… - als ihren sonnigen Süden betrachten (Bild 10).

Bild 10

Für uns, die wir nicht in den Süden flüchten, bleibt die Erkenntnis, dass Seeufer, die bei grauem Nebelwetter von Raureif geschmückt sind, einen Reiz haben, den keine Sonne des Südens bieten könnte (Bild 11). Und mit der Zeit – wer weiß? – fällt dann auch Schnee auf die zugefrorene Seenlandschaft (Bild 12).
Dr. Heinz Klöser

Bild 11
Bild 12


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