Mai – Lebensraum Rasen

„Wenn der Sommer kommt, hilft nur die Flucht ins Zimmer.
Irgendein Depp mäht irgendwo immer…“

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So dichtete schon vor einiger Zeit Reinhard Mey, und eigentlich hat sich seitdem nichts geändert: Die warmen Tage kommen, und alles drängt nach draußen – leider auch diejenigen Zeitgenossen, denen nichts Besseres einfällt, als dröhnende Motoren anzuwerfen, und darunter vorrangig Rasenmäher. Nun hat ja wirklich jeder, der einen Garten besitzt, auch ein mehr oder minder großes Stück Rasen darin, und je größer der Garten, desto ausgedehnter – bis hin zu regelrechten Graseinöden beeindruckender Phantasielosigkeit. Das muss natürlich gemäht werden, so dass das Treiben der nervig empfundenen Nachbarn nur das eigene Tun widerspiegelt. Wenn der Rasen schön grün, gleichmäßig, moos- und unkrautfrei – eben ordentlich – sein soll, geht es nicht anders, sollte man meinen.

Aber muss man sich den Rasen wirklich ein- bis mehrmals die Woche vornehmen? Und dazu vertikutieren, Kanten trimmen und so? Und das auf Kosten der Nachbarn, die nur einen ruhigen Feierabend genießen wollen? Die Antwort ist ein klares Nein; dennoch erfreut sich das Rasenmähen einer Beliebtheit, die an Forrest Gump erinnert, jedenfalls solange es der eigene Mäher ist, der röhrt.

Nun kann man fragen, worin eigentlich der Reiz solch glatt geschorener Flächen liegt, und die Antwort, die man in aller Regel von den Leuten bekommt, lautet erstaunlicherweise, dass man einen pflegeleichten Garten haben wolle. Pflegeleicht? Bei dem Arbeitsaufwand, der in die Pflege des Rasens gesteckt wird? Und es ist ja nicht nur, was man nur allzu laut hört: Da wird dann auch Kalkstickstoff gestreut, zur Düngung und gegen Moos, oder gleich ein Herbizid, damit nur ja kein Gänseblümchen das teppichbodenartige Gleichmaß stört; und nicht zu vergessen Schneckenkorn und Rattengift.

Die Leute wissen ja gar nicht, was sie verpassen. Wir haben auch einen Rasen, und der wird auch gemäht, aber vielleicht alle drei oder vier Wochen einmal, je nachdem, wie gut es gerade wächst; er wird nie gedüngt und mit Gift traktiert schon gar nicht. Und es ist verblüffend: Der ach so langweilige Rasen entpuppt sich als ein vielfältiger Lebensraum. In unserem Rasen blühen selbstverständlich Gänseblümchen (Bild 1), bald gefolgt von Persischem Ehrenpreis (Bild 2), der über Nacht himmelblaue Wolken in den Rasen webt. Kommt dann der Sommer, leuchten die hellgelben Sterne des Stängellosen Habichtskrautes auf (Bild 3), um im Hochsommer und Frühherbst von den dunkler gelben und langstieligeren Herbstlöwenzähnen (Bild 4) abgelöst zu werden. Wenn die jeweils nächste Mahd fällig ist, – klar – dann ist die Blütenpracht dahin, aber schon nach wenigen Tagen sind all die Blümchen wieder da. Und sie stören sich keineswegs daran, wenn man den Rasen nun auch betreten will.

Natürlich haben wir auch Moos im Rasen, an feucht-schattigen Stellen sogar überwiegend (Bild 05). Moos sieht in keiner Weise weniger attraktiv als Gras aus. Wen das stört, dem sei empfohlen, einmal barfuß über den Rasen zu laufen: Abgeschnittene Grashalme pieken, wohingegen Moos weich ist wie ein Polsterteppich. Die Meister der japanischen Gartenkunst gingen und gehen sogar so weit, solche Moosflächen gezielt anzulegen und die Grashalme daraus heraus zu zupfen. Weshalb also sollte man etwas dagegen haben, wenn auch Moos im Rasen wächst?

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Dass ein solch artenreicher Bewuchs auch Tiere anzieht, darf man getrost erwarten, auch wenn es etwas dauern kann, bis man sie zu Gesicht bekommt. So leben unter der Rasendecke dicke, weiße Engerlinge, aber die fertigen Käfer kommen – je nach Art – erst nach ein paar Jahren zum Vorschein. Jetzt im Mai ist natürlich die Zeit der Maikäfer (Bild 6), die viele nur noch in Form von Schokolade kennen (ja, auch darüber hat Reinhard Mey ein Lied geschrieben). Maikäfer sind recht stattliche Tiere, aber sie treiben sich nur kurze Zeit in der offenen Luft herum. Das gleiche gilt für den ein paar Wochen später auftauchenden Junikäfer (Bild 7), eine im Vergleich zum Maikäfer eher mittelgroße Art. Was ihm aber an Größe fehlt, macht er durch Anzahl wett. Während Maikäfer doch eher einzeln erscheinen, schweben die Junikäfer wie eine brummende Wolke über dem Rasen, so etwa in Kniehöhe, aber schon eine Woche später sind sie wieder verschwunden, nachdem sie Eier für den nächsten Schub Engerlinge gelegt haben.

Bild 6
Bild 7

Und wo Engerlinge sind, dort sind auch Maulwürfe (Bild 8). Sie gehören zu den ursprünglichsten Säugetieren (wenn man mal von den australischen Beutel- und Schnabeltieren absieht) und  graben im Untergrund Gänge, immer auf der Suche nach nahrhaften Insektenlarven, die an den Wurzeln der Rasenpflanzen knabbern; und daher sollten ihnen die Gartenbesitzer eigentlich gewogen sein. Immerhin stehen sie wegen ihres unbestreitbaren Nutzens sogar unter Naturschutz! Doch, herrje! Der Maulwurf wirft doch tatsächlich die aus den Gängen gebaggerte Erde zu sichtbaren Haufen auf die mühsam homogenisierte Rasenfläche! Kann man das dulden? – Man kann. Interessanterweise werfen Maulwürfe ihre Haufen bevorzugt in der kalten Jahreszeit auf, und das kann auf feuchten Wiesen geradezu dramatische Ausmaße annehmen (Bild 9). Im Garten nutzen wir die Gelegenheit und tragen die Hügel ab, denn die locker krümelige Erde ist für die Aussaattöpfe im Frühjahr  ideal. Im Sommer machen aber unsere Maulwürfe aus uns nicht ganz klaren Gründen kaum noch neue Haufen, und die manchmal unter den Haufen kahl gewordenen Stellen werden schnell wieder von durchwachsendem Gras begrünt. Gibt es doch einmal eine größere Kahlstelle, ist auch das nicht verkehrt: In mehreren Fällen hat sich bei uns gerade an solchen Stellen der Heidegünsel eingefunden (Bild 10), und der ist immerhin eine bedrohte Art.

Bild 8
Bild 9
Bild 10

Nun sind Maulwürfe nicht die einzigen Gräber im Garten, und woran erkennt man eigentlich, dass es Maulwürfe sind, die uns hier die Ehre geben? Die Gänge des Maulwurfs enden immer in der Mitte, das heißt, an der Spitze des Haufens, was besonders gut sichtbar ist, wenn der Haufen bereits ein wenig vom Regen abgetragen wurde (Bild 11). Befinden sich die Ausgänge jedoch am Rand (Bild 12), stammt der Haufen von einer der verschiedenen Wühlmausarten (Bild 13: Rötelmaus); außerdem führen deren Gänge schräg in den Boden hinein und nicht senkrecht, wie bei den Maulwürfen. Wenn im Frühjahr der Schnee schmilzt, findet man im Gras oft auch die Spuren oberirdischer Gänge (Bild 14), die die Mäuse unter dem Schnee angelegt haben. Ein ehrbarer Maulwurf würde so etwas nie tun!

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Bild 12
Bild 13
Bild 14

Natürlich gibt es auch eine ganze Anzahl von Tierarten, die von oben an die fetten Engerlinge heranzukommen versuchen, allen voran die Amsel (Bild 15) und der Eichelhäher (Bild 16), die beide kräftig genug sind, um ganze Rasenstücke aus dem Boden zu reißen, um zu sehen, was sich Leckeres darunter befindet. Und manchmal schaut sogar ein Fuchs vorbei (Bild 17). Der gräbt auch gerne mal, und dann ist es ihm eigentlich egal, ob er Engerlinge, Maulwürfe oder Mäuse erwischt.

Bild 15
Bild 16
Bild 17

Der Rasen also: ein spannendes Frühlingsthema! – und keines, dessentwegen man ins Zimmer fliehen sollte. Bliebe noch zu sagen, dass man in einem wirklich pflegeleichten Garten die Rasenflächen auf das nötige Mindestmaß beschränken und durch eine Wiese ersetzen kann. Die braucht man dann nur noch ein- bis zweimal im Jahr zu mähen, mit Ausnahme der Wege vielleicht, die man ständig geht (Bild 18). Und dann kann man sich, entspannt und gelassen in der Sonne sitzend, einer humorvollen Schadenfreude hingeben, während die Nachbarn sich stundenlang mit ihren Rasenmähern abmühen.
Dr. Heinz Klöser

Bild 18


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