Die Antwort darauf reicht weit zurück ins tiefste Mittelalter. Damals glaubte man, dass der Herrgott in seiner Güte die Pflanzen, denen Heilkräfte innewohnten, mit Zeichen ausgestattet habe, an denen man erkennen könne, wofür das jeweilige Kraut zu gebrauchen sei. Dies war die Signaturenlehre. Im Falle des Leberblümchens schien der Fall eindeutig: Die dreilappigen Blätter entsprachen der Form des namengebenden menschlichen Organs, und die Unterseite der Blätter wiesen die dunkel trübrote Färbung des Leberblutes auf.
Tatsächlich haben Menschen immer schon, wenn sie heilkräftige Pflanzen suchten, zunächst einmal diejenigen ausprobiert, die in ihrem Aussehen Andeutungen auf das zu behandelnde Leiden zu machen schienen. Durch Versuch und Irrtum sammelten sich dann mit der Zeit erstaunliche Kenntnisse an, die eingeweihte Heilkundige über die Generationen bewahrten, und das waren die Schamanen. Nun denken sicher viele, Schamanen gibt es in Sibirien, in Australien, Afrika oder bei den Indianern Amerikas, aber bei uns? Nun ja, unsere Schamanen waren die Hexen, aber die wurden auf brutale und niederträchtige Weise durch die gläubigen Gemeinden ihrer Zeit ausgerottet. Und entsprechend entspricht das meiste, was wir über Hexen zu glauben wissen, immer noch eher übelwollenden Gerüchten als historischer Wahrheit.
So waren die Hexen keineswegs nur Frauen, und es waren auch nicht finstere, böswillige Gestalten mit Kristallkugel, Krähe und Katze. Tatsächlich gab es genau so viele Hexer wie Hexen, und es gab – ähnlich, wie es in Sibirien „weiße“ und „schwarze“ Schamanen gab – gute und schlechte Hexen. Im Wesentlichen beruhten ihre angeblich magischen Kräfte schlicht auf einem umfassenden, sorgsam gehüteten Wissen über das, was sich an natürlichen Wirkstoffen bewährt hatte. Selbstverständlich sprachen sie auch Flüche aus, aber das tat damals eigentlich, wie man in Sagen und Märchen leicht nachlesen kann, jeder. Nur bedienten sich Hexen dabei uralter heidnischer Symbole und Riten. Aber das war es nicht, was die Kirche an den Hexen störte. Die frommen Herren waren immer schon gut darin, beliebte heidnische Traditionen in ihren eigenen Kanon zu integrieren; man denke nur an den Weihnachtsbaum, den Osterhasen, den Erntedank …
Das, was wirklich störte, war die sinnliche Freizügigkeit, die Hexen und Hexern zu Eigen war. Unter all den pflanzlichen Hilfsmitteln fanden sich schließlich auch solche, die fleischlichen Freuden auf die Sprünge helfen. Man munkelte von Orgien auf mondbeschienenen Waldlichtungen – und das im Angesicht einer Institution, die ihrem eigenen Personal den Umgang mit dem anderen Geschlecht verbot! Das konnte nicht gut gehen – und ging es ja auch nicht. Nun trat allerdings mit der Ausrottung der Hexen ein unerwünschter Nebeneffekt ein, dass nämlich nun von den mehr oder minder gelehrten Herren der christlichen Welt Abhilfe bei allerlei Erkrankungen erwartet wurde. Und die in ihrer Ratlosigkeit versuchten voller Gottvertrauen, aus den von den Heiden eigentlich nur als ersten Ausgangspunkt verstandenen Pflanzenmerkmalen eine formale Lehre zu entwickeln, eben die Lehre von den Signaturen.