April – Von frühen Blumen, Hexen und frommen Herren

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Wir kennen es alle: Nach einem langen Winter warten wir sehnsüchtig auf die Blumen, und dann ist doch wieder alles weiß im Wald. Doch diesmal sind es in der Tat Blumen – Buschwindröschen, die weiße Blütenteppiche über den Waldboden breiten (Bild 1). Viele übersehen dabei, dass es in dieser frühen Jahreszeit auch andere Blumen gibt, die uns die Ehre geben. Dazu gehört auch ein hübsches Gewächs mit einem eigentlich seltsamen Namen, das Leberblümchen (Bild 2). Wie kommt eine so zarte Pflanze zu so einem Namen?

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Die Antwort darauf reicht weit zurück ins tiefste Mittelalter. Damals glaubte man, dass der Herrgott in seiner Güte die Pflanzen, denen Heilkräfte innewohnten, mit Zeichen ausgestattet habe, an denen man erkennen könne, wofür das jeweilige Kraut zu gebrauchen sei. Dies war die Signaturenlehre. Im Falle des Leberblümchens schien der Fall eindeutig: Die dreilappigen Blätter entsprachen der Form des namengebenden menschlichen Organs, und die Unterseite der Blätter wiesen die dunkel trübrote Färbung des Leberblutes auf.

Tatsächlich haben Menschen immer schon, wenn sie heilkräftige Pflanzen suchten, zunächst einmal diejenigen ausprobiert, die in ihrem Aussehen Andeutungen auf das zu behandelnde Leiden zu machen schienen. Durch Versuch und Irrtum sammelten sich dann mit der Zeit erstaunliche Kenntnisse an, die eingeweihte Heilkundige über die Generationen bewahrten, und das waren die Schamanen. Nun denken sicher viele, Schamanen gibt es in Sibirien, in Australien, Afrika oder bei den Indianern Amerikas, aber bei uns? Nun ja, unsere Schamanen waren die Hexen, aber die wurden auf brutale und niederträchtige Weise durch die gläubigen Gemeinden ihrer Zeit ausgerottet. Und entsprechend entspricht das meiste, was wir über Hexen zu glauben wissen, immer noch eher übelwollenden Gerüchten als historischer Wahrheit.

So waren die Hexen keineswegs nur Frauen, und es waren auch nicht finstere, böswillige Gestalten mit Kristallkugel, Krähe und Katze. Tatsächlich gab es genau so viele Hexer wie Hexen, und es gab – ähnlich, wie es in Sibirien „weiße“ und „schwarze“ Schamanen gab – gute und schlechte Hexen. Im Wesentlichen beruhten ihre angeblich magischen Kräfte schlicht auf einem umfassenden, sorgsam gehüteten Wissen über das, was sich an natürlichen Wirkstoffen bewährt hatte. Selbstverständlich sprachen sie auch Flüche aus, aber das tat damals eigentlich, wie man in Sagen und Märchen leicht nachlesen kann, jeder. Nur bedienten sich Hexen dabei uralter heidnischer Symbole und Riten. Aber das war es nicht, was die Kirche an den Hexen störte. Die frommen Herren waren immer schon gut darin, beliebte heidnische Traditionen in ihren eigenen Kanon zu integrieren; man denke nur an den Weihnachtsbaum, den Osterhasen, den Erntedank …

Das, was wirklich störte, war die sinnliche Freizügigkeit, die Hexen und Hexern zu Eigen war. Unter all den pflanzlichen Hilfsmitteln fanden sich schließlich auch solche, die fleischlichen Freuden auf die Sprünge helfen. Man munkelte von Orgien auf mondbeschienenen Waldlichtungen – und das im Angesicht einer Institution, die ihrem eigenen Personal den Umgang mit dem anderen Geschlecht verbot! Das konnte nicht gut gehen – und ging es ja auch nicht. Nun trat allerdings mit der Ausrottung der Hexen ein unerwünschter Nebeneffekt ein, dass nämlich nun von den mehr oder minder gelehrten Herren der christlichen Welt Abhilfe bei allerlei Erkrankungen erwartet wurde. Und die in ihrer Ratlosigkeit versuchten voller Gottvertrauen, aus den von den Heiden eigentlich nur als ersten Ausgangspunkt verstandenen Pflanzenmerkmalen eine formale Lehre zu entwickeln, eben die Lehre von den Signaturen.

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Dramatische Fehleinschätzungen waren die Folge. Schon das Leberblümchen war kein Treffer, aber gerade auch die durch aufrecht-phallische Erscheinung für männliche Stärke indizierten Pflanzen – Aronstab (Bild 3) und Spargel (Bild 4) – gingen nicht in der beabsichtigten Weise in die Hose. Eben so wenig halfen den Damen die nach ihrem im Mittelalter getragenen Umhang benannten Frauenmantelblätter (Bild 5) bei ihren speziellen Leiden. Auch die durch hirnwindungsartige Muster gezeichnete Walnuss (Bild 6) war in ihrem Signum nicht wirksamer als die herzförmigen Blätter der Veilchen (Bild 7) in ihrem. Und wenn von Schlangen gebissene Menschen die Behandlung mit dem durch schlangenzungenartig gegabelten Griffel ausgewiesenen Natternkopf (Bild 8) oder den durch schlangenartige Wurzeln gekennzeichneten Schlangenknöterich (Bild 9 – heute Wiesenknöterich) überlebt haben, dann dürfte es eher daran gelegen haben, dass das Gift der Kreuzotter bei weitem nicht so wirksam ist wie das Gift von Schlangen aus wärmeren Gegenden, oder dass der Biss von einer sowieso ungiftigen Natter stammte. Auch die Tuberkuloseflecken auf den Blättern der Lungenwurz (Bild 10) waren trügerisch. Allerdings war man da in Norddeutschland auf der sicheren Seite: Die im Norden beheimateten Lungenkräuter tragen solche missleitenden Flecken nicht (Bild 11).

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Immerhin konnte bei all den vergeblichen Versuchen nicht ausbleiben, dass der eine oder andere doch zum Erfolg führte – wenn auch mitunter mit Überraschungen. Das wegen seines gelben Saftes ausgewählte Schöllkraut (Bild 12) enthält tatsächlich einen Wirkstoff gegen Gelbsucht, jedoch mit so starken Nebenwirkungen, dass seine Anwendung – nun ja – gesundheitsschädlich ist. Der Schachtelhalm (Bild 13), wegen seines starren, straff gegliederten Aufbaus als Sinnbild für skelettartige Strukturen verstanden, bietet in Wirklichkeit eine wertvolle Medizin für Harnleiden.

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Wirklich zutreffend war hingegen die Interpretation der an gichtverkrümmte Zehen erinnernden Zwiebeln der Herbstzeitlose, deren Wirkstoffe für genau diese Krankheit heilsam sind. Sie treibt zur Zeit mit grünem Laub und Samenkapseln aus (Bild 14), während ihre Blüten im Spätsommer und Frühherbst alleine im welkenden Gras stehen (Bild 15).

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Bleibt noch zu erwähnen, dass die Signaturenlehre auch heute noch Anhänger hat, denen ich nicht zu nahe getreten sein will. Die vielen Fehlschläge erscheinen ihnen als Ergebnis einer allzu naiven, platten Herangehensweise. Die wahre Signaturenlehre erfordere – so ist es zu lesen – ein „helles Sehen“ oder „Äthersehen“. Da mir jedoch eine solche Sicht verwehrt geblieben ist, möchte ich mich – mit Verlaub – in solche Geheimnisse nicht einmischen.
Dr. Heinz Klöser



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