BUND Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland


November – Der graue Monat

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Graue Wolken, kalter Wind, kahle Bäume – es ist November, und keiner mag ihn. Nebel treibt durch das schwarze Geäst, und die Sonne scheint nur kurz und kraftlos (Bild 1). Ein Monat, der uns – je nach Charakter – melancholisch bis depressiv werden lässt. Bonjour Tristesse!

Und dennoch lohnt es sich auch jetzt, mit offenen Augen in die Natur hinaus zu gehen. Erstaunlich ist ganz sicher, wie sehr die Bäume unsere Stimmungen beeinflussen. Es ist ja nicht das Wetter an sich – Regen und Sturm gibt es auch im Sommer. Aber die kahlen, wie abgestorben wirkenden Bäume lassen in uns eine morbide Stimmung um sich greifen und machen uns empfänglich für Gruselgeschichten (die wir sicherheitshalber am warmen Kamin lesen). Hatten wir beim letzten Mal noch über die prächtigen Farben des Herbstlaubs resümiert, ist dessen Feuerwerk jetzt bereits verloschen, und nur ein paar letzte Blätter hängen noch wie nach der Partie vergessene Lampions an schwarzen Zweigen (Bild 2). Zeit, darüber nachzudenken, warum die Bäume ihr Laub überhaupt abwerfen und uns mit unseren trüben Gedanken allein lassen.

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Die nahe liegendste Erklärung, daß sie es tun, um sich vor der winterlichen Kälte zu schützen, ist schon mal falsch. Immerhin wachsen weiter im Norden Fichten in großen Mengen, und die sind immergrün (Bild 3). Es ist also keineswegs notwendig, das Laub abzuwerfen, um der Kälte trotzen zu können. Warum tun es all die Buchen, Eichen, Linden, Birken, Ahorne aber dann?

Um das beantworten zu können, müssen wir weit in die Vergangenheit zurück gehen, etliche Millionen Jahre, bis vor die Eiszeit. Damals, kurz vor der Katastrophe, die die Dinosaurier auslöschte, und noch einige Millionen Jahre danach, herrschte an den Polen ein warmes Klima, so dass dort Wälder wuchsen. Nun bleibt ein Pol auch in einem warmen Klima ein Pol, an dem es 6 Monate ununterbrochen Sonnenlicht gibt und 6 Monate ununterbrochene Polarnacht. 6 Monate tiefe Dunkelheit! Wie hält eine Pflanze das aus? Noch dazu bei Temperaturen, die ihren Stoffwechsel in Gang halten? Dazu muß man wissen (und das ist unter Nicht-Biologen, also den meisten von uns, kaum bekannt), daß Pflanzen genauso wie wir Sauerstoff veratmen und Kohlendioxid freisetzen (die sogenannte Dunkelreaktion). Bei Licht allerdings erzeugen sie über die Photosynthese so viel mehr Sauerstoff und eigene Biomasse, daß das in der Gesamtbilanz nicht großartig ins Gewicht fällt. Aber bei 6 Monaten ohne einen Sonnenstrahl? In diesem Fall verliert die Pflanze durch die Dunkelatmung so viel Kohlenstoff (aus dem ja ihre Biomasse aufgebaut ist), dass sie letztendlich regelrecht verhungert. Wir verlieren ebenfalls Kohlenstoff durch Atmung, aber wir können das durch Essen wieder wettmachen, und das geht ja auch im Dunkeln. Diese Möglichkeit hat die Pflanze aber nicht; sie braucht Licht, wenn sie ihre Kohlenstoffverluste ausgleichen will. Und wenn das über längere Zeiten nicht möglich ist, bleibt nur, die Verluste, so gut es geht, einzuschränken, bis die schlechte Zeit vorüber ist. Genau das machen also die Bäume: Sie werfen die nutzlos gewordenen Blätter, die ihnen jetzt nur ein Defizit einbringen, ab, nachdem sie alle wertvollen Inhaltsstoffe der Blätter im Stamm geborgen haben. Der Laubwurf ist also nicht eine Anpassung an winterliche Kälte, sondern an winterliche Dunkelheit bei hohen Temperaturen - Bedingungen, die es heute in dieser Kombination gar nicht mehr gibt.

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Dennoch werfen unsere Laubbäume auch heute noch ihr Laub ab. Nachdem sie durch die Vereisung der Pole gezwungen waren, in niederere Breiten auszuweichen, stellte sich nämlich heraus, daß der Laubabwurf auch eine hervorragende Strategie gegen eine andere unvorteilhafte Kombination von Umweltbedingungen war, die man mit dem Begriff „Frosttrocknis“ zusammenfasst. In unseren gemäßigten Breiten kann es durchaus vorkommen, daß im Winter Wassermangel auftritt: Die Sonne kann bei uns auch im Winter intensiv genug scheinen, um in den Blättern die Photosynthese anzuregen. Gleichzeitig kann der Boden knochenhart gefroren sein, so daß trotz prinzipiell ausreichender Niederschläge kein Wasser verfügbar ist. Nun geht Photosynthese aber immer mit Verdunstung einher. Wenn also die Blätter unter solchen Bedingungen die Arbeit aufnähmen, verbräuchten sie Wasser, das von den Wurzeln nicht nachgeliefert werden kann, weil das Bodenwasser zu Eis erstarrt ist. Als Folge würden die Bäume vertrocknen, und sie vermeiden dies, indem sie die Blätter abwerfen (Bild 4).

Weiter im Norden sind allerdings – wie bereits erwähnt – die Wälder immergrün, aber die dort vorherrschenden Fichten gehören zu einem ganz anderen Typ von Bäumen als unsere Laubbäume, den so genannten Schneebäumen: Wegen der im Norden weniger intensiven Sonneneinstrahlung ist die Frosttrocknis schwach genug, daß Bäume wie die Fichten mit kleinen, harten, wachsüberzogenen Nadeln die winterliche Verdunstung hinreichend einschränken können, zumal, da dort - im Gegensatz zur Zone unserer winterkahlen Wälder – im Winter zuverlässig Schnee fällt, der das immergrüne Laub beschattet.

Damit tritt aber auch ein neues Problem auf: Während unsere Laubbäume sich ausladende Kronen leisten können, weil der Schnee im wesentlichen zwischen den kahlen Zweigen und Ästen hindurch fällt, bleibt auf immergrünen Zweigen wesentlich mehr Schnee liegen, und damit haben die Fichten ein enormes Gewicht zu tragen. Deshalb haben die Schneebäume, zu denen neben Fichten auch Tannen und schmalkronige Kiefern gehören, kerzengerade Stämme, die den Druck dieser Auflast gut tragen können. Die Zweige sind elastisch und kurz, so daß sie bei zu hoher Schneelast nicht abbrechen, sondern sich nach unten biegen, so daß zu große Schneemassen abrutschen können (Bild 5). Die Äste unserer Laubbäume hingegen haben eine so hohe Elastizität nicht. Fällt einmal besonders nasser Pappschnee, wie es immer wieder vorkommt, kann sich selbst auf den dünnen Zweigen so viel Gewicht aufbauen (Bild 6), daß die Bäume oft bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit hinab gebogen werden (Bild 7), und manchmal auch darüber hinaus (Bild 8).

Bild 6
Bild 7
Bild 8
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Nach diesen Ausführungen erscheint es erstaunlich, dass wir in unseren Wäldern dennoch einen kleinen Baum finden können, der großflächige immergrüne Blätter trägt, die an südliche Arten wie Lorbeer und andere mittelmeerische Gewächse erinnert, die allesamt hier nicht winterhart sind. Gemeint ist die Hülse oder Stechpalme, manchmal auch mit ihrem lateinischen Namen als Ilex bezeichnet (Bild 9). Wie schafft sie es, hier durchzuhalten? Die Antwort ist: Selbst kahle Bäume werfen mit ihrem Zweiggeflecht ausreichend Schatten, daß die Sonneneinstrahlung stark genug reduziert wird, um die Frosttrocknis im Unterwuchs auf ein erträgliches Maß abzumildern. Außerdem hat die Stechpalme ebenfalls elastische, biegsame Zweige, um der Schneelast zu begegnen. Deshalb kann man davon ausgehen, dass in weiten Bereichen Norddeutschlands die ursprünglichen Wälder im Winter gar nicht völlig kahl waren, sondern eine zweite, niedrigere und immergrüne Baumschicht aufwiesen. Solche Verhältnisse (Bild 11) finden wir heutzutage jedoch nur noch selten. Jahrhundertelange Bekämpfung der Stechpalme als „Forstunkraut“ hat sie weitgehend aus den Wäldern verdrängt, und wo sie noch vorkommt, wächst sie eher als niedriges Gestrüpp.

Abschließend können wir also feststellen, dass kein Grund besteht, im November Trübsal zu blasen. Statt dessen sollten wir uns über die fein justierten Anpassungen der Bäume an ihre unterschiedliche Umwelt wundern, die gerade jetzt zu Tage treten. Und wenn dann doch die Sonne noch mal heraus kommt und die Stämme der kahlen Buchen in mattem Silber aufleuchten lässt, dann ist selbst der graue Monat einfach schön (Bild 11).
Dr. Heinz Klöser

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Quelle: http://archiv.bund-herzogtum-lauenburg.de/projekte/monatsbeobachtungen/2012/november_der_graue_monat/